Wenn du schon einmal mit hierarchischen oder geclusterten Daten gearbeitet hast, bist du vielleicht auf zwei statistische Verfahren gestoßen, die für solche Strukturen besonders geeignet sind: Multi-Level-Modelle (MLM) und Verallgemeinerte Schätzgleichungen (Generalized Estimating Equations, GEE). Beide Methoden sind hilfreich, wenn es um Messwiederholungen oder Daten in Gruppen (z. B. Schüler:innen in Klassen, Patient:innen in Kliniken oder Messzeitpunkte bei denselben Personen) geht. Doch obwohl sie auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, verfolgen sie unterschiedliche Ziele und haben unterschiedliche Stärken und Schwächen.
In diesem Blogartikel zeige ich dir, worin sich die beiden Ansätze ähneln, was die Unterschiede zwischen MLM und GEE sind und wann welcher Ansatz sinnvoll ist. Los geht’s!
Was haben MLM und GEE gemeinsam?
Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. Beide Methoden sind spezialisierte Verfahren für Daten, die nicht unabängig voneinander sind. Das ist z. B. dann der Fall, wenn Du
- hierarchische oder geclusterte Daten hast (z. B. Schüler:innen innerhalb von Klassen, Patient:innen innerhalb von Kliniken)
- Messwiederholungen an wechselnden Zeitpunkten durchführst (z. B. selbständige Futteraufnahme einer Kuh im Tagesverlauf)
Solche Daten verletzen die Annahme der Unabhängigkeit, die viele klassische Verfahren voraussetzen. MLM und GEE helfen dir, diese Abhängigkeit angemessen zu berücksichtigen – aber es gibt auch einige Unterschiede.
GEE: Populationseffekte robust schätzen
Die verallgemeinerten Schätzgleichungen (Generalized Estimating Equations) verfolgen das Ziel, durchschnittliche Effekte auf Populationsebene zu schätzen. Dabei steht nicht die Modellierung der Abhängigkeit an sich im Vordergrund, sondern die Korrektur für diese Abhängigkeit, um trotzdem zuverlässige Schätzwerte zu erhalten.
Hier die wichtigsten Merkmale von GEE:
- Robustheit bei falscher Modellannahme: Auch wenn die Korrelationsstruktur falsch spezifiziert ist, liefert der robuste Sandwich-Schätzer zuverlässige Ergebnisse.
- Einfachere Modelle: GEE sind methodisch weniger komplex als MLM und benötigen weniger Vorwissen. Allerdings sind sie auch nicht so flexibel und können keine komplexen Strukturen abbilden. Beispielsweise sind keine Effekte auf unterschiedlichen Ebenen möglich, damit auch keine Cross-Level-Interaktionen und auch keine Struktur mit mehr als zwei Ebenen.
- Ziel: durchschnittlicher Effekt in der Population, nicht Aussagen über einzelne Gruppen oder Individuen.
- Keine Untersuchung zufälliger Effekte: GEE modelliert keine zufälligen Effekte. Es können nur feste Effekte geschätzt werden.
- Keine Modellgüte-Kennwerte: Da GEE mit einer Quasi-Likelihood-Schätzung arbeitet, gibt es keine klassischen Kennwerte wie AIC oder BIC. Dadurch können auch keine Modellvergleiche vorgenommen werden.
- Fehlende Werte: GEE funktioniert nur korrekt bei MCAR (Missing Completely at Random), was eine sehr strenge Annahme ist.
Wann GEE sinnvoll ist: Wenn Du einfache, robuste Modelle brauchst und es dir um den durchschnittlichen Effekt auf Populationsebene geht.
Multi-Level-Modelle: Struktur verstehen und nutzen
Multi-Level-Modelle (auch hierarchische Modelle oder Mixed Models genannt) gehen einen anderen Weg. Sie versuchen, die Abhängigkeiten in den Daten aktiv zu modellieren, indem sie sowohl feste als auch zufällige Effekte schätzen.
Die zentralen Merkmale von MLM:
- Untersuchung auf mehreren Ebenen: Du kannst z. B. Effekte auf Klassenebene UND Schüler:innenebene gleichzeitig betrachten und auch Cross-Level-Interaktionen untersuchen.
- Sowohl feste als auch zufällige Effekte: Neben festen Effekten werden bei Bedarf auch zufällige Effekte (sowohl Intercept als auch Slopes) untersucht und auf Signifikanz geprüft.
- Sehr flexible Modellstruktur: Auch mehr als zwei Ebenen, beispielsweise Schule – Klasse – Schüler:in, oder komplexe verschachtelte Strukturen sind möglich.
- Komplexere Spezifikation: MLM erfordern mehr statistisches Vorwissen, und bei falscher Spezifikation des Modells sind verzerrte Ergebnisse möglich.
- Modellvergleich und Modellgüte möglich: Dank der Maximum-Likelihood-Schätzung stehen Kennwerte wie AIC, BIC oder Log-Likelihood zur Verfügung, die auch zum Vergleich von Modellen eingesetzt werden können.
- Besserer Umgang mit fehlenden Werten: MLM erfordern lediglich die MAR-Annahme (Missing at Random), die weniger strikt ist als MCAR.
Wann MLM sinnvoll ist: Wenn du Aussagen über verschiedene Ebenen treffen willst, individuelle Unterschiede modellieren möchtest oder komplexe Strukturen vorliegen.
Einen Blogartikel über Multi-Level-Modelle und wann du sie brauchst findest du hier.
Ein Beispiel aus der Praxis
Stell dir vor, du untersuchst das Stressniveau von Pflegekräften in 20 verschiedenen Krankenhäusern. In jedem Krankenhaus nehmen zwischen 20 und 50 Pflegekräfte teil. Die Hälfte der Pflegekräfte nimmt an einer Schulung zur Stressbewältigung teil. Jede Pflegekraft wird dreimal im Laufe eines Jahres befragt.
- Mit GEE würdest du untersuchen, ob die Schulung im Durchschnitt das Stressniveau aller Pflegekräfte in der Schulungs-Gruppe deutlicher senkt im Vergleich zur Nicht-Schulungs-Gruppe. Dabei interessierst du dich nicht dafür, wie unterschiedlich die einzelnen Krankenhäuser oder Pflegekräfte auf die Schulung reagieren, oder ob es Effekte auf Krankenhaus-Ebene gibt wie Beispielsweise die Krankenhausgröße.
- Mit einem Multi-Level-Modell könntest du zusätzlich untersuchen, wie unterschiedlich stark der Effekt der Schulung zwischen den Krankenhäusern ausfällt, oder ob einige Pflegekräfte generell stärker reagieren als andere. Oder du untersuchst Effekte auf Krankenhaus-Ebene: ob z.B. die Größe des Krankenhauses einen Einfluss hat, oder ob die Schulung in kleinen Krankenhäusern besser funktioniert als in großen (Cross-Level-Interaktion). Du modellierst also auch die Variabilität zwischen den Einheiten.
Alles auf einen Blick: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Vor- und Nachteile
Aspekt | Verallgemeinerte Schätzgleichungen (GEE) | Multi-Level-Modelle (MLM) |
---|---|---|
Ziel | Schätzung des durchschnittlichen Populationseffekts | Schätzung individueller und gruppenspezifischer Effekte |
Komplexität | Einfacher, weniger Modellierungsaufwand | Komplexer, mehr Vorwissen notwendig |
Effekte | Nur feste Effekte | Feste und zufällige Effekte |
Ebenen | Keine explizite Modellierung mehrerer Ebenen | Mehrere (auch mehr als 2) Ebenen explizit modellierbar |
Modellgüte | Keine klassischen Kennwerte, kein Modellvergleich | Modellgüte-Kennwerte wie AIC, BIC, Log-Likelihood und Modellvergleich möglich |
Fehlende Werte | Nur MCAR erlaubt | MAR erlaubt (weniger strenge Voraussetzung) |
Robustheit | Auch verlässlich bei falscher Modellspezfikation | Nicht verlässlich bei falscher Modellspezifikation |
Anwendung sinnvoll bei… | Populationsaussagen, einfache Fragestellungen | Komplexe Fragestellungen, Aussagen auf verschiedenen Ebenen |
Fazit
Beide Verfahren haben ihre Berechtigung, und welches du auswählst, hängt von deiner Forschungsfrage und deinen Daten ab. Wenn du einfache, robuste Modelle für Durchschnittseffekte brauchst, ist GEE dein Freund. Wenn du hingegen komplexe Strukturen untersuchen willst, kommst du an Multi-Level-Modellen kaum vorbei.
Wenn du tiefer einsteigen willst, lade ich dich ein, in der Statistik-Akademie vorbeizuschauen – dort lernst du mehr über diese und andere Verfahren und auch, wie du sie mit Software praktisch umsetzt.
Hast du schon Erfahrungen mit GEE oder MLM gemacht? Schreib mir gern deine Fragen oder Kommentare dazu!
Als weiterführende Literatur empfehle ich dir das Buch von Matthias Rudolf und Diana Vogel-Blaschka:
Rudolf, M., & Vogel-Blaschka, D. (2023). Komplexe regressionsanalytische Verfahren: Eine praxisorientierte Einführung mit Anwendungsbeispielen in R und SPSS. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.

Ich bin Statistik-Expertin aus Leidenschaft und bringe Dir auf leicht verständliche Weise und anwendungsorientiert die statistische Datenanalyse bei. Mit meinen praxisrelevanten Inhalten und hilfreichen Tipps wirst Du statistisch kompetenter und bringst Dein Projekt einen großen Schritt voran.